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oder:      Von den zwei Flügeln der Philosophie

Seit Januar 2006 trifft sich alle 14 Tage eine Gruppe von Senioren zu philosophischen Gesprächen. Es sind Veranstaltungen, die im Programm des Treffpunkts Seniorenbüro der Stadt Regensburg ihren Platz haben. Von den 20 Personen, die an den ersten Treffen teilnahmen, sind noch acht dabei. Bei den übrigen regelmäßigen Teilnehmern heute sind noch weitere fünf Personen seit gut zwei Jahren aktiv, so dass in der gegenwärtigen Gruppe ein großes Potential von Erfahrung im Umgang mit philosophischen Themen und mit der Gesprächssituation einer Gruppe vorhanden ist. Ich betrachte dies als eine Besonderheit, als etwas, das sich auch nicht einfach herstellen lässt, weil es auf der Freiwilligkeit der Teilnehmer basiert und weil die Erfahrung von zahlreichen Treffen sich nur im zeitlichen Verlauf herausbilden kann.





1.      Hintergrund

a)      Der Initiator

Nach einem Leben als Lehrer für Latein und Religion fragte ich mich, wie ich die Zeit nach meiner Pensionierung gestalten könnte. Schon einige Zeit vor dieser Wegmarke, hatte ich die Philosophie neu entdeckt. 30 Jahre zuvor wurde ich zwar schon in Philosophie promoviert, aber inzwischen hatte ich den Kontakt zu philosophischen Themen weitgehend verloren, weil mir die traditionellen philosophischen Theorien weltfremd erschienen, akademische Übungen für einen Zirkel von Eingeweihten.

Die Neuentdeckung der „praktischen“ Seite von Philosophie verdanke ich vor allem Pierre Hadot, der mit dem Rückgriff auf die antike Philosophie die theoretischen Grundlagen sicherte. Er konnte klar machen, dass es auch zum Geschäft der Philosophie gehörte und gehört, paränetische, psychagogische oder gar therapeutische Ziele zu verfolgen.

 Und Gerd B. Achenbach ist zu nennen, der die weltweit erste philosophische Praxis gründete. Damit hat er eine Bewegung ausgelöst, die bis heute nichts von ihrer Dynamik eingebüßt hat. Zahlreiche philosophische Praxen bieten ihre Dienste an, philosophische Cafés sind gut besucht und in den Regalen der Buchhandlungen sind Dutzende von Büchern zu finden, in denen versucht wird, mit philosophischem Denken Lebensthemen zu erschließen.
 
b)  Das maßgebliche Verständnis von Philosophie

Im Mittelpunkt der ersten Sitzung des Gesprächskreises standen Thesen zur Bedeutung von Philosophie. Jetzt im Rückblick stelle ich fest, dass die Hauptthesen von damals nach wie vor maßgeblich sind für die Art von Philosophie, an der ich mich im Gesprächskreis orientiere.

Da waren die Formulierungen, die ich bei Kay Hoffman gefunden hatte:
- Philosophie setzt dort ein, wo das Wissen, das auf Bewältigung aus ist, nicht mehr weiter weiß.
- Philosophie vermittelt die Erlaubnis, sich im Nichtwissen zu beheimaten.
- Philosophieren ist der Versuch, dem Geschehen welcher Art auch immer einen Sinn zu geben, ohne der Vernunft das Vertrauen zu entziehen.
- Jeder kann sein eigener Philosoph werden. Aber die richtige Lebensphilosophie zu finden ist eine Lebenskunst. Grundlage ist der Glaube an die Vernunft und an den Dialog. 
 
Dann bei Karl Jaspers:
- Die Philosophiegeschichte bietet komplexe, vielfältige, unüberschaubare und schwer verständliche Systeme. Die Philosophie will Wahrheit, aber sie kann sie nicht bieten. So bleibt die Forderung nach Wahrhaftigkeit.
- Philosophie führt dorthin, wo jeder einzelne sich geschenkt wird.
- Das Philosophieren hat gleichsam zwei Flügel, der eine schlägt in der Kraft des unmittelbaren Denkens, in der Lehre des Allgemeinen, der andere schlägt mit solchem Denken in der Existenz des einzelnen. 
Das Wort von den zwei Flügeln des Philosophierens ist gleichsam zum Programm geworden: Die Kraft des Denkens und der Bezug zur eigenen Existenz.

c) Philosophieren in der Gruppe
Die philosophische Praxis zielt in der Regel auf das „philosophische Selbstmanagement“. Der philosophisch Suchende ist dabei auf einen „Berater“, auf das Buch in seiner Hand und auf sich selbst verwiesen.

In der von mir gesichteten Literatur fand ich einzig bei Lou Marinoff, einem „Pionier der praktischen Philosophie in den USA“ einen Hinweis auf die Beschäftigung mit philosophischen Themen in Gruppen. Und zwar in einer Weise, die über die Möglichkeiten von philosophischen Cafés oder ähnlichen Veranstaltungen hinausgeht. Marinoff selbst bietet in einer Buchhandlung in Manhattan ein monatliches philosophisches Forum an, bei dem sich ein gewisses Stammpublikum trifft. Er gibt dort zwar ein Thema vor, lässt aber dann „das Gespräch sich entwickeln, wie es kommt“. „Sie brauchen keinen Doktor in Philosophie, um Erfahrungen zu machen und selbständig zu denken.“ Was aber bei diesen Gruppen offensichtlich fehlt ist eine kontinuierliche Entwicklung der Gesprächskultur und eine zunehmende Sicherheit der Teilnehmer im Umgang mit philosophischen Themen.

 Marinoff stellt dazu noch eine „formalisierte“ Methode vor, die er in Abgrenzung zur „sokratischen Methode“ als „sokratischen Dialog“ bezeichnet. Ein Verfahren, das, wie er sagt, seit dem frühen 20. Jahrhundert bekannt sei. Es geht darum, dass eine Gruppe sich einer grundlegenden Frage zuwendet, z.B. „Was ist Hoffnung?“, und dann in einer schrittweisen Annäherung eine Antwort findet, nicht durch Abstimmung, sondern durch Übereinstimmung. Ein, wie ich finde, reizvolles Verfahren, das aber bei formellen Gruppen nur gelegentlich angewendet werden kann.

d) Die Teilnehmer
Die meisten Teilnehmer bringen keine konkrete philosophische Vorbildung mit. Es ist schon so, wie Marinoff sagt: Man brauche keine philosophische Ausbildung, um Erfahrungen zu machen und selbständig zu denken. Um aber am Denken und Reden einer philosophischen Gruppe teilzuhaben, braucht es Offenheit, Interesse an geistigen Auseinandersetzungen und die Geduld, sich auch auf komplexere Themenbereiche einzulassen.

Zum Kern unserer Gruppe gehören etwa 15 Personen. Die Gruppe ist grundsätzlich offen für weitere Teilnehmer. Bisher halten sich „Zu- und Abgänge“ in etwa die Waage. Viel mehr als 15 sollten es aber nicht sein, weil sonst die Gespräche den persönlichen Ton verlieren und die einzelnen sich nicht mehr ausreichend wahrgenommen fühlen.

2. Zum Verlauf der Gespräche

 Den Rahmen für die Gespräche bilden Bücher, deren Inhalt nach und nach zum Thema gemacht wird. Aktuell wird das Buch „Wieviel Freiheit braucht der Mensch?“ von Rüdiger Safranski bearbeitet. Wird im Text auf einzelne Philosophen Bezug genommen, werden diese mit ihren Lehren vorgestellt und besprochen. 

Darüber hinaus werden auch größere Themenblöcke für sich behandelt, z.B. das allgegenwärtige Thema „Glück“ oder die Sinnfrage. Das nächste Globalthema wird  „Weisheit“ sein. Bei diesen großen Themen werden nach Möglichkeit alle zuständigen Fachrichtungen und Wissenschaftsdisziplinen mit ihren Beiträgen mit einbezogen.

 Bei passender Gelegenheit wird den Teilnehmern auch die Möglichkeit geboten, persönlichere Bereiche in der Gruppe zur Sprache zu bringen. Z.B. Antworten auf die Frage „Welche Überzeugungen geben mir Halt in schweren Zeiten?“ Oder: Jeder Teilnehmer bringt einen Gegenstand mit, mit dem er eine persönliche Bedeutung verbindet und erzählt davon. Oder auch: In sechs Wörter etwas Wesentliches über sein Leben aussagen.


 3. Die Frage nach den „Wirkungen“

a) Allgemeine Aussagen
Anlass dafür, nach den Wirkungen der philosophischen Gespräche zu fragen, war für mich die Äußerung einer Teilnehmerin, die sagte, dass sie in der Folge der Beschäftigung mit philosophischen Themen skeptischer geworden sei, dass sie dies zum Teil bedaure, weil damit eine früher gewohnte Sicherheit brüchig geworden sei.

Über solche „Wandlungen“ mehr zu erfahren, erschien mir spannend. Und die Ergebnisse einer solchen Erkundung könnten auch für die Gruppe selbst Bedeutung haben.
So bat ich die Teilnehmer, ihre „Beobachtungen“ in schriftlicher Form mitzuteilen.

Hier einige Auszüge davon:
„Seit zwei Jahren nehme ich alle 14 Tage an dem philosophischen Gesprächskreis teil.

Mir scheint, dass ich in der Zeit aufmerksamer, wacher, bewusster und gelassener geworden bin; ich lese mit den angesagten Büchern und den zur Verfügung gestellten Texten mehr als zuvor; ich interessiere mich verstärkt für Berichte über naturwissenschaftliche Forschungsergebnisse u. a. in den Bereichen Neurowissenschaften und Astronomie. ... Aber ein besserer Mensch bin ich bis jetzt nicht geworden.“

„Bevor ich zu dem Gesprächskreis gestoßen bin, hatte ich eine mehr intuitiv gewonnene Einstellung zu Werten, zum Leben und zu Fragen des Glaubens und der Religion. Durch die Teilnahme an dem philosophischen Gesprächskreis, dadurch dass ich mich aktiv gedanklich mit diesen Fragen und Problemen auseinander gesetzt habe, haben sich einige Einstellungen verändert, andere haben an Klarheit gewonnen und sind für mich einsichtlicher geworden. Insgesamt fühle ich mich in meiner Lebenseinstellung gefestigter und das gibt mir ein Gefühl von Sicherheit und Stabilität im Umgang mit mir und meinen Mitmenschen.“

„Als wohltuend erfahre ich die Tatsache, dass im Gespräch jede Art von Zweifel ‚erlaubt’ ist und dass keine Fragen ‚verboten’ sind. Meine Skepsis ist durch diesen Umgang mit Lebensthemen größer geworden, aber zugleich auch meine Gelassenheit.“                                  
 „Bei unserem Philosophiegespräch treffe ich Menschen, vor denen ich mich frei äußern kann und darf. Philosophieren mit sich selbst führt in eine Sackgasse. Ich brauche die Meinung des Anderen und wenn sie noch  so anders ist.“

“Mein Denken ist kritischer geworden. Ich kann meinen Standpunkt besser vertreten, ich lese mehr, und kann bei Gesprächen und Diskussionen die Menschen besser beurteilen. Dafür bin ich sehr dankbar.“

„Ich finde in der Begegnung mit den verschiedenen philosophischen Strömungen wieder die Freiheit des ungebundenen Denkens. Wer immer ich bin, ich finde damit ein wenig zurück zu mir selbst, zu den Träumen meiner Jugend ...“

 „Und es ist weniger die Philosophie, die mich manches in meinem Leben besser verstehen lässt, eher die Psychologie, die wir ja auch oft genug in unseren Diskussionen ansprechen. Skeptischer, in der Betrachtung des Lebens, bin ich eigentlich nicht geworden, nur vielleicht etwas verwundert.“

„Ich bin gelassener geworden, das mag eine gelungene Kombination von Philosophie und Lebenserfahrung sein.“

b)   Der Fragebogen
Um Tendenzen für die Gruppe insgesamt festzustellen, erschien mir dann doch ein Fragebogen das geeignetere Mittel.

Aus der Fragebogenaktion erhielt ich 13 anonymisierte Rückmeldungen. Fünf Teilnehmer sind männlich, acht weiblich. Die erste Auskunft bezog sich darauf, wie lange die Teilnehmer schon bei der Gruppe sind. Aus den Angaben errechnete ich einen Durchschnitt von 2,9 Jahren. Zwischen den Antworten und der Zeit der Zugehörigkeit zur Gruppe konnte ich keinen Zusammenhang erkennen, d.h. ob z.B. jemand ein Jahr oder vier Jahre bei der Gruppe ist, hatte keinen merklichen Einfluss auf das Ausmaß der „Wirkungen“.
 
Philosophie im Gespräch – mit Folgen?
Die Grundfrage lautete:
Was hat sich nach Ihrer Einschätzung mit der Teilnahme an den Philosophie-Gesprächen geändert oder nicht geändert?

Bewertungsskala (mit den zugeordneten Zahlenwerten):                     
stimmt (2), stimmt zum Teil (1), trifft weniger zu (0,5), weiß nicht (0),
trifft gar nicht zu (-2)
 
Ergebnisse - mit den Zahlenwerten für die befragte Gruppe:
         
1. Ich verfolge die aktuellen Diskussionen in Gesellschaft und Wissenschaft mit mehr Interesse: 1,54

2. Es fällt mir leichter in diesen Fragen zu einem begründeten Urteil zu kommen: 1,13

3. Mir ist jetzt klarer, was die wesentlichen Themen des menschlichen Lebens sind: 1,54

4. Ich kann jetzt manches in meinem Leben besser verstehen: 1,36

5. Ich bin skeptischer geworden: 1,18

6. Ich bin gelassener geworden: 1,18  

7. Meine Einstellung in der Beziehung zu anderen Menschen hat sich verändert: 1,18 

8. Ich fühle mich in der Gesprächsgruppe wohl: 1,90 

9. Der Kontakt innerhalb der Gruppe ist mir wichtig: 1,63 

Erstaunt hat mich zunächst die Tatsache, dass niemand die Option „weiß nicht“ oder „trifft gar nicht zu“ gewählt hat. Unter Philosophen ist doch das „ich weiß nicht“ ein bekannte Kategorie.

Die Aussage Nr. 7, die sich auf Veränderungen in der Beziehung zu anderen Menschen bezieht, erschien mir als die weitest gehende Form der „Wirkung“. Dass auch in diesem Bereich eine relative Zustimmung signalisiert wird, hat mich überrascht.

Das Philosophieren bietet einen Rahmen für ein Gespräch ohne Limit. Und die Philosophie ist seit alters die einzige Instanz, die eine Diskussion erlauben kann abseits von allen Machtpositionen und Fundamentalismen. Wenn man sich in der Gruppe eine solche Freiheit nimmt, dann kann – auch in fortgeschrittenem Alter -  das Leben nochmal eine andere Färbung bekommen.

siehe: http://www.regensburg.de/leben/gesellschaft-u-soziales/senioren/aktiv-im-alter/bildung/gespraechskreis-philosophie/62275