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Grund-Sätze
   
 


Beispiele für eine spannungsreiche Beziehung 

 
Einteilung: Zwei Gruppen von Texten – nur unscharfe Trennung

 I. Texte, in denen ein philosophischer Glaube zum Ausdruck kommt,
    in denen ethisch-existentielle Themen um Mittelpunkt stehen.

II. Texte, die sich mit dem religiös-christlichen Glauben befassen.

 
Vorbemerkungen: 
 

Was literarische Texte sind, bedarf keiner Diskussion. Und religiöse Begriffe und Inhalte sind im Prinzip auch leicht identifizierbar. Aber häufig ist unklar, wie diese Inhalte bewertet werden. Selbst eine scharfe Kritik kann eine positive Intention haben. Darüber hinaus kann Religion auch so verstanden werden, dass sie mit menschlichen Grundproblemen verwoben ist und nur indirekt zum Ausdruck kommt.

Diese Fragen der Klassifizierung sollen uns nur am Rande beschäftigen.

Wir sortieren die Texte grob in zwei Gruppen: Texte, in denen ein philosophischer Glaube zum Ausdruck kommt, in denen ethisch-existentielle Themen um Mittelpunkt stehen, und Texte, die sich mit dem religiös-christlichen Glauben im engeren Sinn befassen.




Zu I.)    Texte, in denen ein philosophischer Glaube zum Ausdruck kommt, in denen ethisch-existentielle Themen um Mittelpunkt stehen.

(Motté 28-33)

Zu dieser Gruppe gehören Texte mit allgemein menschlichen Themen, wie die Frage nach dem Ich und Du, der Einsicht in persönliches Versagen, der Sorge für die Umwelt, dem Teilen der Güter, dem Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden, der Krankheit und dem Tod, dem Sinn des Leidens und Lebens.

Als Beispiele seien hier Texte von Günter Kunert aus verschiedenen Schaffensperioden angeführt. Seit den Anfängen seiner schriftstellerischen Tätigkeit stellt er immer wieder in Gedichten und Prosa expressis verbis die Sinnfrage und umkreist damit das, was heute vielfach als »religiöse« Fragestellung bezeichnet wird. Zudem verwendet er gele­gentlich biblische Metaphern und mythologische Figuren und reflektiert in seinen theoretischen Schriften die Funktion des Gedichts für Autor und Leser als „eine Ahnung der direkten Zwiesprache mit etwas Numinosem.“ Für ihn trägt das Gedicht mythische Züge, allerdings - wie er selbst schreibt - im Sinne einer leeren Transzendenz.

Dem Leser von Kunerts Schriften bleibt nicht verborgen, dass die Fragen in seinen Gedichten drängender, die Antworten skeptischer; die Aussagen trost­loser geworden sind. Marcel Reich-Ranicki sprach sogar von einer zunehmenden Verfinsterung. Das Gedicht »Sorgen« (1966) gestaltet Kunert als eine große offene Frage:

Der zu leben sich entschließt
Muss wissen
Warum er gestern zur Nachtzeit erwachte
Wohin er heute durch die Straßen geht
Wozu er morgen in seinem Zimmer
Die Wände mit weißem Kalk anstreicht.
War da ein Schrei?
Ist da ein Ziel?
Wird das Sicherheit sein?"
 

Drei fast banale Ereignisse der Alltagswelt gewinnen durch die Formulierung als indirekte Fragesätze und die entsprechenden, als neue Fragen gegebenen »Antworten« existentielle Bedeutung. Die Tempora (Vergangenheit - Gegen­wart - Zukunft) der »Antwort-Fragen« korrespondieren mit den Zeitad­verbien der »Ausgangsfragen« (gestern - heute - morgen), so dass das Immer­währende der »Sorgen«, das heißt einer unbewältigten Vergangenheit (Nationalsozialismus), einer ungesicherten Gegenwart (DDR-Realität) oder allgemeiner Lebensrätsel unüber­hörbar ist. Das Gedicht gibt keine Antwort auf die Fragen des Menschen nach dem Grund (Warum), dem Ziel (Wohin), dem Sinn (Wozu) des Lebens, auch nicht im äußersten Ernstfall - »Muss wis­sen« füllt eine ganze Zeile -, da der einzelne sich für oder gegen das Leben überhaupt zu entscheiden hat. Kunert formuliert die Fragen, macht ihre Dringlichkeit deutlich und hebt sie dadurch ins Bewusstsein des Lesers, lässt jedoch die Antwort offen.

 Anders ist dies im zweiten Beispiel »Sinnsuche« aus den siebziger Jahren (1974):

Sinnsuche
Aufstehen. Arbeiten und heimgehen
und ins Bett: das ist der Sinn.
Aufgestandensein und erschossen
und begraben werden: das ist der Sinn
gleichfalls.
Werde und stirb: ist die Umkehrung
sinnvoller?

Auf und heim und schießen
und selber getroffen ins Grab oder ins Bett:
ist eine Alternative der Sinn?

Aufgestandengewesen und heimgegangen,
gearbeitet haben und geschossen,
eingegraben, aufgebettet, aufgegeben:
den Geist, den Sinn, dass dies
der Sinn sei, aber er ist es trotzdem:
Aufstehen, Arbeiten, Heimgehen.

Alle Verwüstungen der Person
vollziehen Personen, überzeugt vom Sinn
des Vollzugs: Quellen steter Sinnflut.
Eine Taube schick aus
zu einem Festland: dich selber suche, du
findest dich
an der Arbeit für dein Bett, für dein Grab. 

 Auch dieses Gedicht von Kunert ist in seiner Gesamtheit vom ersten Wort »Aufstehen« bis zum letzten »Grab« eine eindringliche Frage nach dem Sinn menschlicher Existenz. Weder im üblichen Ablauf des Tages »Aufstehen. Arbeiten und heimgehen / und ins Bett« noch analog dazu im Lauf des Lebens »Aufge­standen­sein und erschossen / und begraben werden« kann der Sprecher des Gedichtes Sinn entdecken. Ob als Handelnder (vgl. Aktiv) oder als Erleidender (vgl. Passiv) - Leben gibt so oder so keinen Sinn, es sei denn, der Mensch fände sich mit dem täglichen Einerlei »Aufstehen, Arbeiten, Heimgehen« ab und sähe dies als sinnvoll an. Dass dies keine befriedigende Antwort ist, ergibt sich aus dem Gesamttext, der mit »Grab« endet. Der Mensch wird geboren (»werde«), um zu sterben (»stirb«), auf natürliche oder gewaltsame Weise, was dazwischen liegt, ergibt keinen Sinn, auch wenn manche ihre gewalttätigen, kriegerischen Aktionen ideologisch als sinnvoll begründen (»Quellen der Sinnflut« - vgl. Sintflut, Gen 6-9). Dass der Spre­cher die Sinnlosigkeit des Lebens beklagt, kommt durch die Zitate zum Aus­druck. »Werde und stirb« ist die Umkehrung des sinnstiftenden Ausspruchs aus Goethes Divan-Gedicht »Selige Sehnsucht«, einem Preislied auf den Kreislauf des Lebens: Im Sterben entsteht neues Leben; Vergehen führt nicht zum Untergang, sondern ist Metamorphose zu höherer Seinsweise und damit Erfüllung. Wer sich ganz auf dieses Lebensgesetz einlässt, lebt sinnvoll:

Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
auf der dunklen Erde. 

Kunert kehrt diese Sentenz um. »Werde und stirb« - was soviel besagt wie: Mit dem Tod ist alles zu Ende. Vor dem Hintergrund der seinsbejahenden Le­bensauffassung im Goethe-Gedicht klingt Kunerts Wendung wie eine Klage über den Sinnverlust. Auch die Darbietungsform ist im Vergleich zum Goethe­-Text beachtenswert: Dort spricht ein Sänger, Moganni Nameh, zunächst viele, dann einen einzelnen, ein »Du«, an und verkündet autoritativ ein allge­meines Lebensgesetz. Auch bei Kunert wird im letzten Abschnitt ein »Du« angesprochen; der Sprecher aber reflektiert seine Unsicherheit (vgl. Fragesät­ze) und führt gleichsam ein Gespräch mit sich selbst (»du« als Anrede für die Distanz zum eigenen Ich). - Die zweite Anspielung zielt auf die Taube, die Noah aussandte und die diesem das Ende der Vernichtung bringenden Sintflut (vgl. Gen 8, 6-12), also Gottes Heilsbotschaft, kündete.

Bei Kunert bringt auch diese Chiffre keine Aufhellung. Der Mensch bleibt - sein Ende vorbe­reitend - auf sich selbst zurückgeworfen, im Teufelskreis sinnloser oder scheinbar sinnvoller Geschäftigkeit. Eine trostlose Vorstellung - es sei denn, man vollzöge die Prämisse, die Kunert 1981 unter dem Stichwort »Religion« formuliert hat, dass der Mensch nichts mehr vom Glauben - woran auch immer - erwartet, sondern in ungeahnter Freiheit zu sich selbst kommt, sich selbst als Sinn erfährt und »nicht das Absolute - heiße es, wie es wolle«.

Ein Beispiel für diese Art der Lebensauffassung bietet das Gedicht aus den achtziger Jahren »Götterdämmerung« (1983), wobei die Ambivalenz von »Götterdämmerung« als Anbruch oder - wie hier - Ende des Tages dem Text seinen Reiz gibt.

Nicht festzuhalten: Dieser Tag. Das Leben.
Gewebe löst sich auf und schwindet hin.
Was auch geschieht, du suchst den Sinn.
Zumindest wirst du danach streben.

Du kannst die Einsicht nicht ertragen:
Aus Dreck und Feuer eine Spottgeburt,
die haltlos durch das Universum tourt,
stets auf der Flucht vor solchen Fragen.

Erkenntnis die: Wir können uns nicht fassen.
Und finden keinen, der uns Göttern gleicht.
Und keinen, der uns Hilfe reicht.
Wir sind uns ohne Gnade überlassen. 

Hier fällt vor allem die Gewichtigkeit der Aussagen auf: keine Fragen wie im ersten, keine frei-rhythmische Fügung wie im zweiten Gedicht, statt dessen streng traditioneller Strophenbau, Übereinstimmung von grammatischer Sinn­einheit und Vers, Geschlossen­heit der Einzelstrophe durch umschließende Reime (abba), Sentenzcharakter durch die Doppelpunkte. Das Gedicht scheint  sich an Leser zu wenden, die die Prämisse, dass der Mensch seine Freiheit nur in sich selbst findet, aufgrund der Erfahrungen von Verfall, Tod und Ausge­setztsein nicht nachvollziehen können. In den beiden ersten Strophen spricht ein nicht zu identifizierendes Ich ein Du, einen anderen oder sich selbst, ver­trauensvoll an; in der letzten Strophe bezieht es sich in die Zahl der Betroffenen ein: Die Erkenntnis ist bitter, sie wird ausschließlich in Negationen formuliert: »nicht fassen«, »keinen« (durch Wiederholung verstärkt), »ohne Gnade«. Die Bezeichnung »uns Göttern« für den suchenden Menschen ist in diesem Kontext als Ausdruck bitterer Ironie oder als Appell, sich der Unabhängigkeit bewusst zu werden, zu lesen. Doch nimmt die letzte Zeile den Sprechern (»Wir«) das Gefühl des Stolzes, wie Götter zu sein, wieder; sie klingt wie ein tiefes Bedauern, dass der Mensch sich gnadenlos selbst überlassen ist bzw. keine Gnade findet. Der Begriff »Gnade« ist der »religiösen« Sprache ent­nommen und verweist auf Transzendenzerfahrungen von Menschen ver­gangener Epochen oder überwundener Religionen (einschließlich des Marxis­mus als Glaube). Wenn auch - nach Kunert - Gedichte auf das Numinose verweisen, Ahnung geben von einem verloren gegangenen Lebensraum, in den es kein Zurück mehr gibt, so vermittelt dies dem auf sich zurückgeworfe­nen Leser keinen Trost, eher Schmerz über den Verlust an Geborgenheit:

Das Gedicht erlöst keinen von Sinnlosigkeit und Zufälligkeit des Lebens, aber es gibt dem Leser das Gefühl, in einen nur zu ahnenden Zusammen­hang wieder aufgenommen zu sein. Einige wenige Zeilen sind der Schlüs­sel zu einem Raum, aus dem wir uns selbst ausgesperrt haben und der wahrscheinlich ein »Lebensraum« gewesen ist. Die absurde Situation des Menschen besteht dar­in, dass er diesen Raum nicht mehr betreten kann, nur diese Tür einen Spalt weit öffnen, um des Verlustes ansichtig zu werden. 

Obwohl Kunerts Gedichte immer wieder religiöse Fragen aufwerfen, erheben sie nicht den Anspruch im strengen Sinne religiös zu sein. Der Autor würde sich gegen eine religiöse Vereinnahmung ver­wahren, wollte man ihn darauf festlegen. "Für mich", so Kunert, "ist der Sinn meines Daseins der, dass ich schreibe. Einen übergreifenden Sinn gibt es nicht mehr, hat es nie gegeben - aber jetzt wissen wir wenigstens, dass es keinen gibt."

Und dennoch kann Kunert, wie Josef Kuschel schreibt, als einer der schärfsten Analytiker und kompromisslosesten Dia­gnostiker des »Rätsels Mensch« in der Literatur der Gegenwart gelten.

In einem Gespräch mit Kuschel bestätigte Kunert: »Ich bin in einem völlig religions- und glaubensleeren Raum aufgewachsen. Weder das Christentum noch das Judentum haben für mich je­mals eine Bedeutung gehabt.«

Kunert be­schreibt seine eigene Situation:

„Was habe eigentlich ich, ein ungetauftes, weltlich erzogenes Subjekt denn mit dieser Kirche zu tun? Meine Antwort, die ich mir selber zu geben beabsichtige, heißt: Meine Vorurteile sind bedeutend geringer als die anderer, sonst Gleichgesinnter. Das kommt wohl daher, dass man mich mit Glaubensfragen nie behelligt hat.“

In seinen Schulzeugnissen stand in der Spalte, wo das Bekenntnis eingetragen wurde, ein Fremdwort, das für ihn erst viel später eine unerwartete Bedeutung erlang­te: „Dissident“.

Doch die biblischen Geschichten und Themen griff er immer wieder auf:

»Also, die biblischen Gleichnisse oder Bilder oder Geschich­ten, wie auch immer man es nennen will, sind für mich ei­gentlich ein ganz wichtiges Material gewesen und sind es bis heute noch. Aber, ich habe sie nie in einem christlichen Sinne genutzt oder benutzt, sondern im Grunde immer gegen den Strich gebürstet, also, doch in einem mir gemäßen literari­schen Sinne verwendet. Manchmal auf den Kopf gestellt, um­gestülpt. Also, doch sehr individuell gebraucht.

Der Sündenfall aber ist ja für mich das Heraustreten des Menschen aus der Natur. Und ich glaube, dass unser ganzes gegenwärtiges Leiden und alle Probleme in der Industriezivilisation eben daher rühren, dass wir in einer ganz fernen, dunklen Zeit auf das Instrumentale gesetzt haben, d. h. also, in dem Moment, wo der Mensch den ersten Feuerstein benutzte, als Werkzeug, war schon der Sündenfall eingetreten.

Das heißt also, dass unser Gehirn, unsere Denkweisen, unsere Logik, unsere Vernunft zu dem geworden ist, was man eben instrumental nennt. . . da liegt der Sündenfall. Das ist die Sünde gewesen, unser Ausstieg aus der Tierheit.«

 
Die stets fragile und gefährdete Situation des Men­schen hat Kunert in einem seiner letzten Gedichtbände (1990) in Form eines »Selbstporträts« noch einmal so be­schrieben:

»Nun bin ich ganz entfremdet
von Baum und Strauch und Blatt.
Fühllos: die kleine Maschine
die jeder in sich hat

Die Welt: Ein Chaos von Bildern
von Menschen die man vergaß.
Die Tage aus Apparaten:
Ganz nach Mittelmaß

Bin nicht obschon ich denke.
Leb nicht obschon noch hier.
Weiß nichts durch alles Wissen.
Sterbe und bin kein Tier.

Müde des eigenen Rätsels
von drohender Zukunft krank,
wehrlos in jeder Lage
verpflichtet keinem. Zu Dank.«
 

Da ist zuerst der vertraute Grund­gedanke, der Mensch sei von der Natur völlig entfremdet; das Herz sei wie eine gefühllose kleine Maschine; die Welt sei ein Chaos von Bildern; die Tage liefen nach einem mechanischen Rhythmus, banal und mittelmäßig. Dies aber wird nicht beklagt. Obschon ein denkendes Wesen, so ist man doch nie mit sich identisch; ob­wohl existierend, lebt man nie wirklich; obwohl man sehr viel Wissen erwirbt, bleiben die entscheidenden Fragen dunkel; ob­wohl man stirbt wie ein Tier, ist man doch keines.

Müdigkeit stellt sich ein im Prozess dauernder Selbstreflexion, zumal die Zukunft mit dem, was sie an »Drohungen« enthält, einen eher krank macht. Wehrlosigkeit scheint denn auch die einzig adäquate Reaktion. Und dennoch kommt ein Danksagen ins Spiel. Der Gedanke über­rascht; er ist im Text durch nichts vorbereitet. Durch die letzte lakonische Zeile wird er eingespielt; und vieles an Bedeutungen schwingt unausgesprochen mit. Denn: »verpflichtet« ist man ja keinem, und trotzdem ist Dankbarkeit offensichtlich angebracht. Angedeutet ist damit wohl dies: Auch der Müdeste und Wehr­loseste lebt nicht nur für sich und aus sich. Selbst das Wenige, von dem Menschen leben, bekommen sie in der Regel geschenkt. So endet das Gedicht auf eine überraschende Weise mit einem Verweis über sich hinaus: Ohne einem Menschen verpflichtet zu sein, ist doch Dank angesagt. (Kuschel 57-59)

Entschiedener und mutiger setzt Salman Rushdie, der Verfasser des Romans „Die satanischen Verse“ die Bedeutung von Literatur an. Wie bekannt ist, wurde die in diesem Werk enthaltene satirische Darstellung über das Leben des Propheten Mohammed wurde von muslimischen Leserkreisen als Verletzung ihres religiösen Selbstver­ständnisses gewertet. Der iranische Staatschef Khomeini verurteilte den provokanten Schriftsteller zum Tode und rief die Moslems in aller Welt zur Vollstreckung des Urteils auf. Die Umsetzung der „Fatwa“, des Feme-Urteils Khomeinis, sollte durch ein Kopfgeld in Millionenhöhe beschleunigt werden. Bisher konnte sich Rushdie dem Vollzug dieses Urteils entziehen.

Dieser Salman Rushdie räumt der Literatur und besonders dem Roman »weit reichende Kompetenzen« ein. Deshalb soll er hier auch als nicht deutschsprachiger Autor zu Wort kommen. Literatur hat nach ihm die Aufgabe, den Menschen zur Transzendenz hin zu entgrenzen. Sie kann damit die Aufgabe übernehmen, der die Religionen in den säkularisierten Gesellschaften kaum mehr nachkommen.

Zitat:  „Unter »Transzendenz« verstehe ich jene Erhebung des menschlichen Gei­stes über die Grenzen seiner materiellen, physischen Existenz, die wir alle, ob weltlich oder religiös orientiert, bisweilen erfahren. Die Geburt ist solch ein Augenblick der Transzendenz, die Seligkeit der Liebe, die Empfindung der Freude und wohl auch die Erfahrung des Todes gehören ebenfalls dazu. Diese transzendentale Entgrenzung ist naturgemäß von kurzer Dauer. Nicht einmal das Visionäre, das Mystische währt lange. Es ist Aufgabe der Kunst, diese Erfahrung festzuhalten und, im Falle der Literatur, ihren Lesern zu vermitteln. In einer weltlichen, materialistischen Kultur hat sie in gewisser Weise dem zu entsprechen, was der Gläubige in der Verehrung seines Gottes findet.“
 

Vor dem Hintergrund seiner Erfahrung mit einer fundamentalistischen Religi­onsausübung schreibt Rushdie der Kunst, besonders der Literatur, eine fast my­thisch-mystische Rolle zu. Für ihn sind die Künste als Widerpart der allgegenwärti­gen Macht der liberalen, materialistischen Gesellschaftsordnung unverzicht­bar, da diese nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Utopie sich an keinem Gegenmodell mehr reiben kann, es sei denn am theokratisch funda­mentalistischen des Islams. Dennoch wehrt sich der Autor gegen eine Pro­phetenrolle der Literatur; dazu sei sie in ihrer jeweiligen Ausprägung zu vor­läufig, uneindeutig, missverständlich.

George Steiner und im Anschluss an ihn auch Botho Strauß sind der heute eher selten zu findenden Überzeugung, dass Kunst und Literatur per se ein Setzen auf Transzendenz beinhalten. George Steiner ist ein englischer Literaturwissenschaftler (1929 geboren), der in dem Essay-Band „Von realer Gegenwart“ (1990 in deutscher Übersetzung erschienen) die Summe seines Denkens präsentiert. Und Botho Strauß schrieb zu diesem Buch ein engagiertes Nachwort.

Aus dem Buch und aus dem Nachwort hier einige Zitate.

Zunächst Steiner: „In diesem Essay wird die These verfochten, dass die Vor­aussetzung, der Begriff Sinn habe einen Sinn, - also dar­auf zu setzen, dass Verstehen und Erwiderung möglich sind, wenn eine menschliche Stimme sich an eine andere richtet, wenn wir in Kunst oder Musik uns Text und Werk gegenübersehen, und das heißt, wenn wir dem anderen in seinem Zustand der Freiheit begegnen - ein Setzen auf Transzendenz ist.

Diese Voraussetzung - sie findet sich bei Descartes, bei Kant und bei allen Dichtern, Künstlern oder Komponi­sten, von denen wir explizit Zeugnis haben. …  Die Annahme lautet, dass »Gott« ist, nicht weil unsere Grammatik sich überlebt hat; sondern dass die Grammatik lebt und Welten erzeugt, weil es dieses Setzen auf Gott gibt.“

Er meint damit wohl Folgendes: Jede Rede, jede Mitteilung unter Menschen bezieht sich auf einen Raum von Sinnhaftigkeit, setzt die Möglichkeit von Sinn voraus. Und für den letzten Sinnhorizont steht immer noch das Wort „Gott“.

Nach Steiner hat die Literatur ihren Platz am Samstag, am Karsamstag. Der Karfreitag gilt der Christenheit als der Tag des Kreuzes. Doch der Nichtchrist, der Atheist weiß von ihm ebenso. Das heißt, dass er von der Ungerechtigkeit weiß, von dem unendlichen Leiden, vom Verfall, von dem bruta­len Rätsel des Endens. Wir wissen vom Schmerz, vom Versagen der Liebe, von der Einsamkeit.

Wir wissen auch vom Sonntag. Für den Christen be­deutet dieser Tag eine Ahnung von Auferstehung, von einer Gerechtigkeit und ei­ner Liebe, die den Tod überwunden haben. Wenn wir Nichtchristen oder Ungläubige sind, wissen wir von jenem Sonntag in analogen Begriffen. Wir fassen ihn als Tag der Befreiung von Unmenschlichkeit und Sklaverei auf. Wir hoffen auf Lösungen, seien sie therapeutisch oder poli­tisch, seien sie gesellschaftlich oder messianisch. Die Züge jenes Sonntags tragen den Namen der Hoffnung, der utopischen Vollkommenheit.

Die Gestaltungen im Gedicht und in der Musik, die von Schmerz und Hoff­nung sagen, sind immer des Samstags. Zitat: „Philosophisches Denken, poetisches Schaffen sind Samstagskinder. Sie sind einer Unermesslichkeit des Wartens und Erwartens entsprungen. Gäbe es sie nicht, wie könnten wir ausharren?“

Nun einige Textbeispiele von Botho Strauß aus dem Buch „Niemand anders“ aus dem Jahr 1990, eine Sammlung von „bedeutend-unwesentlichen“ Szenen, von einfühlsam beschriebenen Lebensaugenblicken, wie es in einer Kritik heißt.

Er schreibt über die Monotropie (S. 40 ff.), d.h. über unser Bestreben, in der Philosophie und in der Liebe den Nächsten zum Einzigen zu abstrahieren. Hintergrund dafür ist „eine kurze Phase des frühkindlichen Verhaltens“,  „das natür­liche Verlangen des Säuglings, sich nur an und mit Hilfe einer Person zu orientieren, nur den einen anderen zu erken­nen und wieder zu erkennen, gleich ob er ein väterliches oder ein mütterliches Gesicht hat.“ „Der andere ist da, unbezweifelbar gegenüber.“ „Und nur in der Liebe erfahren wir, was der andere auch ist: der unterste Ahnungsträger des >Ganz Anderen<., der kleinste Unerfind­liche aus jener Sphäre, in welcher er sein Geschlecht ins Neutrum verliert, wie auch seinen Namen und sein Ge­sicht.“

Und etwas später im selben Text (44):
„Meine Religion reicht nur zurück bis zum Augenblick der Erkenntnis. Ihr Anfang ist der Sündenfall. Mein Glaube beginnt mit der Hintergehung Gottes. Nur ohne Eden bin dir begegnet. Nur im Fallen, nur in der Vertreibung habe ich jene Umklammerung erfahren, die mir jeden Sinn für eine höhere, letzte Verheißung geraubt hat. Nur ohne Eden werde ich dich wieder sehen.“

Einige Seiten weiter (58) schreibt er unter dem Titel „Im Stock“ die Situation einer gescheiterten Theologin, deren inneres Drama der Autor aus Briefen erschließt. Zunächst geht er dabei wieder vom Gedanken der Monotropie aus.

“Es gibt niemand anderen als Ihn - sagen die Enthusiasten aller Gottesreligionen. Es gibt niemand anderen als sie, sagt der Liebesnarr und fühlt sich, in der Blasphemie seines Glücks, mit dem Weltabgewandten konform und auf dem Weg zum gleichen Licht.

Ich lese die Briefe einer gescheiterten Theologin, die ir­gendwo in dieser geteilten Stadt in ihrer Kammer haust, sich >klaustrophil<. nennt.“

„Was hat es zu bedeu­ten, vom Glauben niedergerungen und geknebelt zu sein  - ­jetzt und hier, unter den Bedingungen einer nahezu hauch­dicht abgeschlossenen Weltlichkeit? Ein Glaube, der ihr offenbar keine Stärke gibt; sondern dessen Kraft dahin wirkt, ihre Seele zu sprengen. Was ist missglückt? Wir sehen bunte Kirchentage in gefälliger Gegenwartsnähe, wir sehen die Geschäfte der Sekten blühen, hören viel von neuem religiösen Gefühl, Gott als letzte Beschleunigung des gedop­ten Subjekts, Beliebigkeiten, Stimmungssachen, Innerlich­keitskonsum, öffentlich-wesenlos. Es kann doch nicht ge­fährlich sein. . .

Die Klausnerin in ihrer städtischen Abgeschiedenheit erlebt es anders. Für sie ist Glaube etwas, das mit einem ringt, gewaltig, großmächtig, bis man zerbricht, oder man stiehlt sich vorher davon. Man ringt mit ihm wie Frühere mit dem Zweifel rangen. Man zieht ab mit verrenkter Hüfte, schlei­fendem Geist - der Glaube besiegt dich: aber du bist nicht gläubig geworden. Er war zu groß für dich.“

Mit geradezu biblischer Radikalität nimmt hier das Alter Ego des Autors gegen eine Form von Religion, die nur aus Stimmungen und aus oberflächlichen Events heraus lebt, Stellung. Um den tieferen Glauben muss man ringen wie der biblische Jakob und es kann schon sein, dass man diesem Kampf nur mit einer verrenkten Hüfte entkommt.

(145) „Wie Senancour (= frz. Schriftsteller der Frühromantik) bin ich der Meinung, dass die Unterdrückung religiösen Empfindens ein großes Unglück für die Geschichte der menschlichen Vernunft darstellt.

Über beinahe alles ist mit dem intelligenten Zeitgenossen zu reden, nur nicht über ein metaphysisches Problem. Man spürt allgemein eine Scheu, über derlei zu sprechen, die nicht ganz geheuer ist. Fluchend, blasphemisch, tabuverlet­zend darf man sich jederzeit auslassen. Aber die ernste Überzeugung stößt ab und macht verlegen wie eine üble Zote. Die satirische Intelligenz hat hier ihre Schamgrenze.“  ….

„Achtung vor dem Menschen setzt eine Erfahrung von Ehrfurcht voraus, die man nicht allein im Angesicht des Menschen gewinnt.“

Das ist ein klares Bekenntnis: Um Vernunft und Menschlichkeit zu retten, bedarf es der Offenheit für Religion.



 
Zu II.)

Nun zu zweiten Gruppe von Texten. Texte, die sich direkt mit Glaubensinhalten und biblischen Themen auseinandersetzen. Dies kann kritisch und distanziert geschehen, aber auch affirmativ.

Ulla Hahn:  ( - nach Ursula Homann)

In Ulla Hahns Kindheitsroman "Das verborgene Wort" übt der rheinische Nachkriegskatholizismus eine fast alles beherrschende Macht aus.

Die Protagonistin Hildegard Palm wächst in einem bedrückenden, geistfeindlichen Milieu auf, in dem die Menschen nur auf die Sicherung der nackten Existenz bedacht sind und durch einen gefühlskalten und Herzen verhärtenden Katholizismus um die wenigen Glücksmöglichkeiten ihres materiell und seelisch verarmten Lebens gebracht werden.

Jedoch bedeutete der katholische Glaube in Ulla Hahns Kindheit nicht nur Beengung. Er gab auch Halt und Kraft und ermöglichte dem heranwachsenden Kind die Begegnung mit etwas Schönem und Utopischem sowohl durch den Kirchenraum mit seiner alles überragenden beeindruckenden Größe als auch durch die feierliche Musik und die getragene lateinische Sprache, die dort gepflegt wurden und die die Seele des Kindes weit und hell machten.

Hildegard Palm alias Ulla Hahn flüchtet, sobald sie lesen und schreiben kann, immer mehr in die Wörterwelt und versucht, den Dingen das verborgene, in ihnen schlafende Wort zu wecken, denn: "Mit Schreiben und Lesen fängt das Leben an". Dieser Satz auf einer mesopotamischen Wachstafel bildet das Motto des Romans. Heißt es doch schon bei Eichendorff "und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort." Die Poesie, nicht die Religion wird Ulla Hahns Rettung.

Natürlich greift auch Ulla Hahn wie viele andere Lyrikerinnen und Lyriker auf biblische Bilder und Metaphern in ihren Gedichten zurück, wie etwa auf Kreuz, Vaterunser und Engelszungen. Allenfalls drückt ihr "Danklied" ihr Verhältnis zu Religion und Gott aus:


"Ich danke dir, dass du mich nicht beschützt, /
dass du nicht bei mir bist, wenn ich dich brauche, /
kein Firmament bist für den kleinen Bärn, /
und nicht mein Stab und Stecken, der mich stützt. /
Ich danke ich für jeden Fußtritt, der /
mich vorwärts bringt zu mir /
auf meinem Weg. Ich muss alleine gehn. /
Ich danke dir. Du machst es mir nicht schwer. /
Ich dank dir für dein schönes Angesicht, /
das für mich alles ist und weiter nichts. /
Und auch dass ich dir nichts zu danken hab /
als dies und manches andere Gedicht."


Ulla Hahn hat also durchaus christliche Tradition und biblische Bilder in ihrer Lyrik verarbeitet. "Das Denken in Bildern macht uns die Bibel vor", sagte sie einmal im Gespräch mit Karl-Josef Kuschel. Auch stecke hinter dem Aufgreifen biblischer Bilder "die Sehnsucht nach etwas, was es in der Wirklichkeit nicht gibt, aber doch in der Bibel verheißen ist." Gefragt, ob sie an die Wirklichkeit Gottes glaube, antwortete sie: "Ich möchte gerne glauben, dass es so etwas gibt."


Ernst Jandl (Motté 16/17)

Nicht nur in biographischen Notizen und Interviews haben sich moderne Autoren zur

Gottesfrage geäußert, auch in zahlreichen poetischen Texten findet sie ihren Niederschlag. Davon wird in den einzelnen Kapiteln noch oft die Rede sein. Hier sei ein Beispiel von Ernst Jandl zitiert und erläutert, das die Wandlung des Kinderglaubens poetisch umsetzt. In kunstvoller Verschrän­kung lässt Jandl hier ein lyrisches Ich ein Bekenntnis stammeln. Durch die verfremdende Er-Form und den Konjunktiv hält sich der Sprecher die Frage nach dem Glauben weit vom Leib:

 
an gott
dass an gott geglaubt einstens er habe
fürwahr er das könne nicht sagen
es sei einfach gewesen gott da
und dann nicht mehr gewesen gott da
und dazwischen sei garnichts gewesen
jetzt aber er müsste sich plagen
wenn jetzt an gott glauben er wollte
garantieren für ihn könnte niemand
indes vielleicht eines tages
werde einfach gott wieder da sein
und garnichts gewesen dazwischen
 

Wie bei Jandl üblich, setzt der Text unvermittelt mit kleinen Anfangsbuch­staben ein, was u.a. als Abbild der gesprochenen Sprache gewertet werden kann. Das Ganze klingt wie eine Antwort, die der Sprecher einem imaginären Fragesteller gibt, dessen Frage er eingangs, sie gleichsam reflektierend, wie­derholt. Das Wortmaterial beschränkt sich auf Wörter, die immer wieder in anderem Sinn benutzt werden, z.B. gott - einfach - gewesen - da - nicht mehr - garnichts; hervorstechend ist das der biblischen Diktion entnommene »fürwahr« und die Betonung der zeitlichen Entwicklung, Erinnerung und Erwartung, durch »einstens« - »dazwischen« - »jetzt« - »eines tages«. In der Abfolge der Aussagen verrät der Text eine Menge von dem, was vielen Menschen heute der Glaube an Gott bedeutet: Zunächst war der Kinderglau­be da als unreflektiertes Ja zum Dasein Gottes, dann kam unmerklich die Leere (»garnichts«), und zu einer mühevollen Auseinandersetzung fehlten die Beweise. Dennoch schließt das Gedicht mit einem Ausblick, dass »viel­leicht« eines Tages die Rückkehr zum Glauben wieder möglich ist: »einfach gott wieder da«.
 

Magda Motté zieht in ihrem Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Gott“ folgendes Fazit: „Überblickt man die Äußerungen der Autoren zu Religion und Kirche insge­samt, so ist bemerkenswert, mit welcher Offenheit die meisten Auskunft geben. Aber der Befund gibt zu denken. Aus fast allen spricht die Erfah­rung, dass die Entwicklung des Glaubens von der naiv kindlichen Zuversicht zum angefochtenen Vertrauen des Erwachsenen ein selten gelungener Pro­zess ist. In der Kindheit wurden religiöse Praktiken eingeübt, Gebete ge­sprochen, Lieder gesungen, Gebote befolgt, Dogmen und Lehrsätze gelernt. Vielen ist der Glaube abhanden gekommen, einigen unmerklich, anderen bewusst infolge von Entscheidungen, Kränkungen, Verwundungen. Nicht weni­ge befreiten sich mit dem Auszug aus dem Elternhaus auch aus dem ver­meintlichen Korsett kirchlichen Lebens. Andere suchten Gott im Innerwelt­lichen, im Alltäglichen, in östlichen Heilslehren. Die Sehnsucht nach dem Mehr, dem anderen, nach Transzendenz ist bei den meisten vorhanden und aus ihren Werken herauszulesen, doch bleibt die Frage: Wieso betonen diese nachdenklichen Menschen so sehr die Äußerlichkeiten des kirchli­chen Lebens? Warum dringen sie so selten zum Kern der Botschaft vor? Kaum einer der Autoren hat den Wandel in Theologie, Exegese, Verkündi­gung und Gemeindeleben, der durch das II. Vatikanische Konzil ausgelöst wurde, zur Kenntnis genommen. Was ist mit der Verkündigung los, dass sie diese Menschen nicht erreicht?“

Doch sind Biographie und persönlicher Glaube des einzelnen nur die eine Seite der Disharmonie zwischen Künstlern und Kirche, die andere resultiert aus der verschiedenen Wesensart der beiden: Die Kirchen richten sich als tradi­tionsgeprägte Glaubensgemeinschaften an unveränderlichen Wahrheiten aus. Die Kün­ste hingegen reagieren auf das Leben im geschichtlichen Ablauf der Zeit und sind damit einem ständigen Wandel unterworfen, selbst dann, wenn sie die immer wiederkehrenden Fragen des menschlichen Lebens nach dem Woher und Wohin, nach Liebe und Hass, Schuld und Vergebung, Leben und Tod thematisieren. 

Nun zu einem Gedicht von Marie Luise Kaschnitz (aus 100 Gedichte 263 f.), die sich zeitlebens mit religiösen Fragen literarisch auseinandergesetzt hat. Ein Gedicht, in dem sie auf ihr literarisches Schaffen zurückblickt und ihre „Versäumnisse“ aufzählt:

MARIE LUISE KASCHNITZ

NICHT GESAGT

Nicht gesagt
Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre
Und vom Blitz nicht das einzig Richtige
Geschweige denn von der Liebe.
Versuche. Gesuche. Misslungen
Ungenaue Beschreibung

Weggelassen das Morgenrot
Nicht gesprochen vom Sämann
Und nur am Rande vermerkt
Den Hahnenfuß und das Veilchen.

Euch nicht den Rücken gestärkt
Mit ewiger Seligkeit
Den Verfall nicht geleugnet
Und nicht die Verzweiflung

Den Teufel nicht an die Wand
Weil ich nicht an ihn glaube
Gott nicht gelobt
Aber wer bin ich dass

Walter Helmut Fritz schreibt dazu in dem von Marcel Reich-Ranicky herausgegebenen Sammelband deutscher Gedicht u.a. folgendes:

„Das Gedicht erschien mir, seit es vor zwanzig Jahren in dem Band »Ein Wort weiter« zu lesen war, als eines der stärksten von Marie Luise Kaschnitz. Es spricht von Ver­säumnissen, von dem, was sie nicht gesagt hat, zu sagen vergaß, zu sagen unterließ, nicht sagen wollte, nicht sagen konnte. Lässt sich »das einzig Richtige« von der Sonne, dem Blitz, der Liebe sagen? Sicher nicht. Was möglich ist, sind Annäherungen, Winke, Hinweise, »Versuche«.“

„Wiegt es nicht schwer, dass Marie Luise Kaschnitz ihren Lesern nicht den Rücken gestärkt hat »mit ewiger Selig­keit«, dass sie Verfall und Verzweiflung nicht geleugnet, den Teufel nicht an die Wand gemalt und Gott nicht gelobt hat?

»Aber wer bin ich dass« - die letzte Zeile des Gedichts bleibt (wie schon die Anfangszeile der letzten Strophe) un­vollständig, bricht ab. Warum? Weil damit auch im For­malen augenfällig werden soll, was an Erfahrung in den Zeilen zum Ausdruck kommt: Ratlosigkeit, Einsicht in das Fragmentarische menschlichen Tuns, menschlicher Fähig­keit und Zuständigkeit, in die Tatsache, dass wir oft genug ­statt eine Lösung zu finden - nur Unlösbares ins Licht rüc­ken können.“

Kuschel 226 ff:

Ihr Verhältnis zu Glaube und Religion charakterisiert die Autorin selbst:

»Die Gretchenfrage, wie hältst du's mit der Religion, habe ich mir. .. des öfteren gestellt. Die Letzten Dinge, wie sollte ich mich ihnen gegenüber gleichgültig verhalten, da ich ihnen doch schon halb anheimgefallen war, und mit meinem besse­ren, edleren Ich. Nun, ich hielt es mit ihnen, oder sie hielten es mit mir, was manches erklären mag an Streiterei, Auf­lehnung und jähem Vertrauen - ein Gleichgültiger schimpft nicht, hadert nicht, zweifelt nicht, worin sich mein religiöses Leben doch abspielte, wenn ich nicht gerade in der Gnade war, das heißt in einem Zustand, den ich so nicht gerne be­zeichne, aber doch nicht anders bezeichnen kann.«

Als diese Sätze veröffentlicht wurden, hatte Marie Luise Kasch­nitz die größten Katastrophen in ihrem privaten Leben bereits hin­ter sich. Ihr Ehemann, ihre junge Schwägerin und ihre ältere Schwester starben z. T. nach langem qualvollen Leiden.

Nach diesen Erlebnissen kann es aus ihr herausbrechen: »Der liebe Gott in Ehren, aber muss er immer gerade da zuschlagen, wo alles schön in Ordnung und voll Freud und Liebe ist?« In ihren Aufzeichnungen» Tage, Tage, Jahre« (1968) findet sich der Satz: »Was Gott tut, ist noch lange nicht wohlgetan, und wer mit den Menschen und mit sich selber hadert, hadert auch mit ihm, ich tue das beständig, aber seine Existenz zu leugnen käme mir nicht in den Sinn.«

An späterer Stelle, wo sie darüber reflektiert, ob sie ihren Aufzeichnungen nicht den Titel »Gott und die Welt« geben soll:

»>Gott und die Welt<. fand ich dann einen ganz passenden Ti­tel, wobei mich nicht im geringsten genierte, dass von Gott so gut wie nichts auf diesen nun schon zu zwei Bündeln ange­wachsenen Seiten steht. Ich bin kein Atheist. Wo Welt ist, ist auch Gott, kein besonders lieber, aber einer, der sich bestän­dig manifestiert, in jeder Zerstörung, in jeder Versöhnung, der immer mehr ist, als wir selber sind und sein können, so dass, wer die Erscheinungen jedes Tages schildert, ihn auch an die Wand malt und seinen schönen gefallenen Engel dazu.«

Nach Motté 35:

Ein weiteres Beispiel stammt von Reiner Kunze. Es ist Peter Huchel, einem gläubigen Freund, gewidmet und spricht die Wirklichkeit transzendenter Erfahrung mittels eines ungewöhnlichen Bildes aus.

Zuflucht noch hinter der zuflucht (für Peter Huchel)

Hier tritt ungebeten nur der wind durchs tor
Hier
ruft nur gott an

Unzählige leitungen lässt er legen
vom himmel zur erde

Vom dach des leeren kuhstalls
aufs dach des leeren schafstalls
schrillt aus hölzerner rinne
der regenstrahl

Was machst du, fragt gott
Herr, sage ich, es regnet, was
soll man tun
Und seine antwort wächst
grün durch alle fenster
 

Dieses vielen Lesern bekannte Gedicht geht auf eine konkrete Situation zurück. »Zuflucht« ist einmal für den Autor eine wichtige Metapher; »grüne zuflucht« nennt er z.B. das thüringische Städtchen Greiz, wo er und seine Frau nach vielerlei politisch erzwungenen Ortswechseln endlich Heimat und seine Frau als Ärztin Arbeit fanden. Sodann beschreibt das Gedicht die Bleibe, die Peter Huchel, der seit 1962 von den DDR-Behörden angefeindete Schrift­steIler, auf einem alten Bauernhof fand. Dieser Hof, abgelegen, leer, gesi­chert, wird für den verfolgten Dichter (1971 gelang ihm die Übersiedlung in den Westen) zu einer Zufluchtsstätte und zu einem Ort der Begegnung mit Gott. »Hier« ist der Flüchtling in Sicherheit. »Hier« kann er eine ungeahnte Glaubenserfahrung machen. Gott erweist sich als die »Zuflucht«, die noch »hinter der zuflucht« (Bauernhof) liegt; er selbst nimmt die Verbindung zu dem Verfolgten auf. Kunze schafft dafür ein sprechendes komplexes Bild, indem er den technischen Gegenstand Telefon mit dem Naturphänomen Re­gen koppelt. Gott sucht die Beziehung zum Menschen herzustellen, »ruft... an« über »Unzählige leitungen« und viele kleine Zwischenstationen und spricht den Bedrängten in seiner Not zuerst an: »Was machst du«. Noch ist der Flüchtling nervös tätig oder in sich erstarrt, noch sieht er den Regen nicht als Zeichen, als lebenspendendes Wasser, sondern nur als Hindernis für Akti­vitäten. »Herr, sag ich, es / regnet, was / soll man tun«. Deshalb »spricht« Gott noch weiter, bis der Verängstigte aufschaut und im Wachsen der Gräser, Sträucher, Bäume (»seine antwort wächst / grün durch alle fenster«) Gottes schöpferische Kraft erkennt. Das Leben geht weiter, »grün«, das meint: unge­brochen und lebensvoll.

Motté 82:

Es ist schwierig, den Tatbestand der »Blasphemie« von der religiösen Provokation zu unterscheiden. Was für den einen eine Gottesbeleidigung, ist für den anderen ein leidenschaftlicher Aufruhr gegen Gott als Partner im Sinne Hiobs; was für den einen ein Sakrileg, ist für den anderen eine notwen­dige Provokation. So ist für Heinrich Böll der gedankenlose Gebrauch des Namens »Gott« bereits ein Ärgernis:

„Gott ist dann oft ein Abladeplatz für viele Probleme, die wir Menschen lösen könnten. Wir sagen dann: Wende dich an Gott, bete zu Gott. Und wenn erst Politiker das Wort »Gott« aussprechen! Das ist für mich die ein­zige Form der Blasphemie, die ich noch kenne; während die wahre Blas­phemie ja noch eine Anerkennung Gottes ist.“

Zutreffend charakterisiert Kurt Marti in seinem Gedicht »Der ungebetene Hochzeitsgast« die gängige Praxis, besondere Ereignisse (Geburt, Ehe­schließung, Tod) durch liturgische Feiern festlich zu überhöhen, als »Blas­phemie«:
 

Der ungebetene Hochzeitsgast

Die Glocken dröhnen ihren vollsten Ton
und Photographen stehen knipsend krumm.
Es braust der Hochzeitsmarsch von Mendelssohn.
Der Pfarrer kommt! Mit ihm das Christentum.

Die Damen knie'n im Dome schulternackt,
noch im Gebet kokett und photogen,
indes die Herren, konjunkturbefrackt,
diskret auf ihre Armbanduhren sehn.
Sanft wie im Kino surrt die Liturgie
zum Fest von Kapital und Eleganz.
Nur einer flüstert leise: »Blasphemie!«
Der Herr. Allein, Ihn überhört man ganz. 16

Gott ist in vielen solcher Zeremonien nur eine Randerscheinung. Der Ritus hat sich total verselbständigt: Glocken, Musik, Pfarrer dienen dem Zweck der Selbstinszenierung, nicht mehr der Ehre Gottes. Gott ist wie hinausgedrängt aus dem Geschehen (zehn Zeilen sind dem Hochzeitspomp gewidmet, zwei dem Herrn). Marti lässt den Herrn selbst das Geschehen kommentieren, er fühlt sich missbraucht; doch das vernimmt keiner.

Kuschel 103:

Marti schildert die Kirchenszene als verrücktes Szenario, das der Leser lächelnd begleitet. Dieses Lachen kommentiert Karl-Josef Kuschel so:

„In seinem Lachen lebt ein Christ nicht gegen die Konflik­te, sondern in ihnen, nicht mit dem Rücken zu den Problemen, sondern im Widerstand gegen sie. …  Lachen ist Zynismus­prophylaxe. Lachen heißt eine Form der versöhnten Koexistenz mit den Widersprüchen und Abgründen der Welt finden, ohne diese zu verdrängen oder sich von ihnen fatalistisch erdrücken zu lassen.“

Motté 33:

Wenn der Mensch in der Erfahrung von Liebe und Gemeinsamkeit, von Angst und Einsamkeit, von Leid und Tod an seine Grenzen geführt wird, und wenn er sich in diesen Erfahrungen auf einen letzten, alles umfas­senden Sinngrund verwiesen fühlt, von dem er sich abhängig weiß und dem er sein Leben verdankt, so hat er »Religion«. Religiöse Lebensdeutung kann zum staunen­den Schauen, zur meditativen Betrachtung, oft auch zum Lobpreis oder zur Anbetung führen. Texte, die davon etwas expressis verbis deutlich machen, sind genuin »religiös«.


In Heinz Pionteks Gedicht »Freies Geleit« ist diese religiöse Gehalt spürbar:

Da wird ein Ufer
zurückbleiben.
Oder das End eines
Feldwegs.
 
Noch über letzte Lichter hinaus
wird es gehen.

Aufhalten darf uns
niemand und nichts!
Da wird sein
unser Mund
voll Lachens ­-

Die Seele
reiseklar ­ - 

Das All
nur eine schmale
Tür,
angelweit offen 
 

Das Gedicht setzt unmittelbar mit einer fast umgangssprachlichen Wendung »Da wird...« ein, die, im zweiten Teil noch einmal wiederholt, leitmotivisch den Anfang eines Neuen, den Aufbruch aus einer gesicherten Welt (Ufer, Feldweg, letzte Lichter) ins Unbekannte, Offene (offene See, unwegsames Gelände, dunkle Umgebung) betont. Dass dieser Aufbruch ein Wagnis ist, dass Hindernisse oder Verlockungen ihn gefährden könnten, kommt im Zweizeiler - einer Art Mittelachse des Gedichts - zum Ausdruck, der als ermutigender Appell zu verstehen ist. Hier tritt das lyrische Ich aus der unpersönlichen Distanz der ersten Verse heraus und spricht in der Mehrzahl als Paar oder Gruppe, das heißt als eine Gemeinschaft, die das vertraute Wir verbindet. Der zweite Teil schildert den Durchbruch. In ähnlicher Diktion wie im ersten wer­den die Aussagen wiederholt, nur auf einer anderen Ebene. Wo anfangs die Gefahren eines unbestimmten Aufbruchs angedeutet werden, ist nun mittels Metaphern eine befreiende, gelöste Atmosphäre beschrieben (voll Lachens, reiseklar, angelweit offen). Beachtenswert sind die Satzzeichen: Im ersten Teil erfolgt die Beschreibung des Aufbruchs durch abgeschlossene, mit Punkten versehene Sätze, der ermunternde Appell ist durch ein Rufzeichen verstärkt und die Darstellung des Übergangs in die andere Welt, des Aufschwingens ins All, wird durch Gedankenstriche als offen gekennzeichnet. Die letzte Aus­sage von der offenen Tür ist überdies durch eine Leerzeile so freigestellt, dass das Verheißungsvolle nahezu greifbar wird. Piontek verzichtet auf festen Stro­phenbau, Metrum und Reim; solche formalen Einengungen widersprächen dem hier Gemeinten. Die rhythmische Fügung der Kurzzeilen, akzentuiert durch die Enjambements (»Da wird ein Ufer / zurückbleiben«) und die Evokation einzelner Wörter (»Die Seele / reiseklar«), entspricht der geschilderten Uto­pie. Unprätentiös, einfach reiht Piontek Aussage an Aussage, die den Weg aus der Enge ins Offene, aus der Bedrängnis in die Freiheit beschreiben. Der Aufbruch liegt in der Zukunft (Tod?), ist Metapher für einen Neuanfang (Befreiung aus Gefangenschaft, religiöse Umkehr, Glaubensakt?) und wird als Verheißung fast prophetisch (»wird zurückbleiben« / »wird sein«) beschrieben. Es ist nicht weit hergeholt, wenn man in diesem Gedicht eine Aktualisierung der Psalmen entdeckt1", z.B. »Sehnsucht nach Jerusalem« mit dem Bild der heimwehkranken Israeliten an den »Strömen von Babel« (Ps 137 (136) ) und »Heimkehr aus der Gefangenschaft« mit dem ausdrück­lichen Hinweis auf »Da war unser Mund voll Lachen« (Ps 126 (125) ). Auch das Bild von der offenen Tür erinnert an biblische Metaphern von der Ankunft des Bräutigams, von den geöffneten Pforten des Himmels u. ä.. Zudem ist der Topos von Ufer und Fluss/See seit der Antike ein Bild zur mythologischen Darstellung von Tod und Hinübergehen (Styx, Fluss Lethe, Fährmann Charon etc.).

Pionteks Gedicht verweist also durch Form und Vokabular auf eine religiöse Ebene. Aus jeder Wendung und dem Gesamtrhythmus wird der metaphori­sche Charakter deutlich. Ufer meint in diesem Kontext mehr als einen Anle­geplatz für Boote, Zielpunkt für Schwimmer oder Platz für Angler. Auf den metaphorischen Sprachgestus lässt sich der Leser von Anfang an ein und fühlt sich durch die Schlussaussage in seiner Erwartung bestätigt: Es geht um eine Reise über das Irdische hinaus.


Motté 181:

In Eva Zellers Gedicht stellt sich der lyrische Sprecher der »Angst«:

Brüste sich
wer da will
mit dem Mut
der Verzweiflung

Meine Angst
kann sich sehen lassen
angesehn
unter den Ängsten
und wahrer
als ich es wahrhaben will
Ein rotes Tuch
mein Mütchen
daran zu kühlen
Sagt meiner Angst
Ich verliere sie
nicht aus den Augen

Sagt meinen Trübsalen
Ich schicke mich an
sie zu rühmen

Sagt meinem Tod
dass er offene Türen
einrennen wird

Mit dem für die Autorin typischen Kunstmittel der Montage aus Redewen­dungen und Sprachklischees wird in Worte gefasst, was viele empfinden. In den ersten bei den Abschnitten gesteht sich das lyrische Ich seine Angst ein und nennt sie als bremsendes Element für seinen Tatendrang (»Mein Müt­chen / daran zu kühlen«). Dann erfolgt der Umschlag: In einer Klimax von drei paraIlel gebauten Imperativen versucht der Sprecher, die Angst zu bewältigen, und zwar - wie ein Dompteur - durch Augen, Wort und leibli­che Präsenz.

Von jeher bestimmt die Trias Liebe - Macht - Tod die Werke der Weltlitera­tur.? Am Beginn der abendländischen Literaturtradition stehen neben den kul­tischen Liedern und Tänzen vor aIlem die großen Tragödien, die meistens mit dem Tod des Helden oder der HeIdin enden. In freiheitlichem Ja zu diesem Geschick finden diese Reinigung von Schuld und gelangen zum Einklang mit sich selbst und den Göttern. Daraus erwächst ihre Würde. Die Darstellung des Todes als eines erhabenen Vorgangs durchzieht die Literatur bis in die Neuzeit. An die SteIle der Götter tritt das Ich des Menschen, das sich einer wie immer geglaubten höheren Instanz verantwortlich weiß, wie dies in den Tragödien von Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Heinrich von Kleist und Franz GriIlparzer zu sehen ist. Das Schwinden der Gottesbezie­hung bewirkt in der Folgezeit jedoch auch den Verlust der menschlichen Würde und Einmaligkeit. Indem menschliches Leben profaniert und in sei­nem Elend thematisiert wird - wie etwa bei Georg Büchner -, verliert der Mensch auch seine Würde im Sterben. - So hat der Tod in vielen Werken seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr Erlösungs-, Reinigungs- oder VoIlendungs­funktion, sondern wird als sinnloses, grausames, unentrinnbares, absurdes Ende, als Katastrophe, Panne oder Zufall, dargesteIlt, wie dies vor allem in modernen Theaterstücken von Samuel Beckett, Thomas Bernhard, Friedrich Dürrenmatt u. a. zum Ausdruck kommt.

 

Homann 6:

Eva Zeller, Frau eines Pfarrers, macht in ihren Büchern wie etwa in "Tod der Singschwäne" häufig deutlich, wie sehr sie sich auch als Schriftstellerin der christlichen Botschaft verpflichtet fühlt, ohne sie dem Leser als einzig mögliche Anschauung von Welt aufzudrängen.

In ihrem Lyrikband "Ein Stein aus Davids Hirtentasche" kreisen die religiös gefärbten Gedichte um die Erfahrungen eines Menschen, der die Bibel beim Wort nimmt, um deren Spuren am eigenen Leben zu ertasten. In der Auseinandersetzung mit biblischen Gestalten nähert sich das lyrische Ich, schwankend zwischen Zweifel und Gewissheit, in einer spröden Diktion der Botschaft der Bibel und lässt in der lutherischen Tradition deutlich werden, dass das Geheimnis des Glaubens auf Sprache angewiesen ist. 


"Nicht, dass ich
es lese, um es
zu lesen, ich
habe nur das
unverschämte Glück,
am Tropf dieser Worte zu hängen."

In einem anderen Gedicht bekundet sie ihr Bindung an die Bibel:

"Sie werden lachen:
Die Bibel: dies
Sammelsurium der
Schlitzohren
und Opferwütigen, der
Ehebrecherinnen und
Gebenedeiten, der
Judasse und derer,
die mit ihren Tränen
prangen dürfen.
Sie werden lachen:
die Bibel, die Lautschrift, um aus
sprechen zu können,
wonach der Kranke
sich müde seufzt,
der Empörer in
unterkellerten Städten.
Sie werden lachen:
die Bibel, ein Buch
zum Verschlingen,
Himmelherrgottnochmal, und ich bin
höllisch froh,
dass es dermaßen
dick ist."
 

Mit dem Satz “Sie werden lachen”, der noch zweimal wiederholt wird, wird der kritische Leser in die Konfrontation mit der Bibel einbezogen. Die Bibel mit ihren divergierenden Inhalten wird mit anscheinender Abfälligkeit als Sammelsurium bezeichnet. Doch dann nach dem zweiten “Sie werden lachen” wird die Sprachgestalt und die Heilkraft der Bibel beschworen. Und im dritten Teil wird sie als Buch zum Verschlingen tituliert, als spannendes und nährendes Buch zugleich. In dem “Himmelherrgottnochmal” klingt noch einmal eine gewisse “Entrüstung” an, die aber durch den Hinweis auf den gewaltigen Umfang der Bibel wieder aufgehoben wird. Sie ist “dick”, das heißt wiederum zweierlei: umfangreich, vielfältig, aber auch unerschöpflich.

 
Beim anschließenden Fazit halten wir uns an das was Kurt Marti einmal sagte (zitiert bei Hohmann (18)): "Vielleicht hält sich Gott einige Dichter (ich sage mit Bedacht: Dichter!), damit das Reden von ihm jene heilige Unberechenbarkeit bewahre, die den Priestern und Theologen abhanden gekommen ist." Als er dies schrieb, hatte er sicher Recht – so Homann - , das war vor zwanzig Jahren. Heute muss auch Marti diese Dichter mit der Laterne suchen.

Halten wir fest: Religion ist aus der Literatur nicht gänzlich verschwunden, ebenso wenig wie aus dem Alltag, aber die Suche nach Gott treibt die Menschen im allgemeinen und die Schriftsteller im besonderen nicht mehr um. Sie ist kein beherrschendes Thema mehr. Eher treiben die Schriftsteller, wie wir an den letzten Beispielen gesehen haben, mit Gott und den biblischen Überlieferungen ihr Allotria.

Dieser skeptischen Sicht von Homann möchte ich mich nur bedingt anschließen.

Es kann doch sein, dass die Suche nach Gott sich als Suche nach Menschlichkeit tarnt. Und solange Menschen wie Botho Strauß für die Überzeugung stehen: „Achtung vor dem Menschen setzt eine Erfahrung von Ehrfurcht voraus, die man nicht allein im Angesicht des Menschen gewinnt.“ – solange werden auch Religi­on und die Frage nach Gott von Bedeutung sein.

Aber – und nun ganz zum Schluss – das Verhältnis der beiden Größen lässt sich auch umkehren. Wir können über die Sprache der Dichter ein tieferes Verständnis der Bibel gewinnen. Eugen Drewermann schreibt in seiner Deutung des Märchen Dornröschen: “In gewissem Sinne lernen wir damit die Spra­che der Religionen noch einmal neu. Sie ver­knüpft sich, so sehen wir bei der Lektüre auch nur eines kleinen Märchens, das wir seit Kinder­tagen schon kannten, auf das innigste mit dem Erleben der Liebe zwischen zwei Menschen.“

Drewermann vergleicht dann das Aufwachen aus dem Dornröschenschlaf mit

»Auferweckt­werden« im »Grabe«, das »Auferstehen« aus der »Verweslichkeit« wie es in den Ostergeschichten des Neuen Testaments erzählt wird. Es sind Erfahrungen dieser Art vom Anbruch eines Lebens, das den Tod überwindet, indem es zu glauben lernt an die Liebe, die in der Bibel und in der Märchenerzählung ihren Niederschlag gefunden haben.

Zitat: „Und of­fenbar gilt es: Nur wer der Sprache Gottes in der Seele der Menschen zuhört, wie sie sich erzählt in den Märchen der Kinder, in den Mythen der Völ­ker, in der Lyrik der Dichter und in den Kunst­werken der Maler, wird sie wieder erkennen auch in den Worten der Bibel.“

 

 Benutzte Literatur:

Wolfgang Hildesheimer, hrsg. Von Volker Jehle, Frankfurt a.M. 1989

Ursula Homann, Religion und Literatur: ursulahomann.de

Hundert Gedichte des Jahrhunderts, ausgewählt von Marcel Reich-Ranicki, Leipzig 2000

Günter Kunert, in: Text+Kritik, Zeitschrift für Literatur, Heft 109, Jan. 1991

Paul Konrad Kurz, Mit euch ist die heilige weite Welt. Die Wiederentdeckung des Heiligen in der Literatur, Rundfunksendung (br2) „Katholische Welt“ vom 16. April 2000

Karl-Josef Kuschel, Im Spiegel der Dichter. Mensch, Gott und Jesus in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Düsseldorf 1997

Magda Motté, Auf der Suche nach dem verlorenen Gott. Religion in der Literatur der Gegenwart, Mainz 1997

Robert Musil, Zur Einführung, von Thomas Pekar, Hamburg 1997

George Steiner, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt? -, München 1990

Botho Strauß, Zur Einführung, von Stefan Willer, Hamburg 2000

Botho Strauß, Niemand anders, München 1990

Strauß lesen, hrsg. Von Michael Radix, München 1987

Weltliche Erzählungen von Gott in der modernen Weltliteratur, hrsg. Von Wilhelm Höck, München 1972

Christa Wolf, Im Dialog, München 1994


 

Email: philosophiam (at) mx.de